Dieses ganz bestimmte Wort.... Es ist mir leider.... „....entfallen!“
Trägen Gedankens, dennoch leichtfüßig, unbedarften Schrittes, ging ich jüngst durch den französischen Schlossgarten am Schloss Berge. Eine kleine, feine Melodie, just in dem Augenblick, da ich das Ende meiner wohl durchdachten Kurzgeschichte fast sicher im Gedächtnisspeicher wähnte, schlich sich listig ins Kleinhirn. Und sie ließ ab da einfach nicht mehr los, diese Melodie. Sie hatte mich fest in ihrem Griff.
Immer und immer wieder musste ich sie summen, pfeifen, leise singen. Nie zuvor, so schien es, hatte ich sie vernommen. Wie aus dem Nichts war sie aufgetaucht. Letzte Chance, das freche Lied aus dem Schädel zu bekommen, und endlich das Ende der Geschichte zu zementieren. Ich musste mich jetzt nur einfach stark konzentrieren.
Doch da geschah es. Plötzlich, unerwartet und so ganz ohne Vorwarnung: Mir entfiel ein Wort! Es plumpste förmlich aus mir heraus - und dann zu Boden. Hätte eine Frau oder ein Mann, ein Kind vielleicht, aus der Nähe Zeuge werden können, so hätte jene Person sogar einen Laut vernommen. Das Wort entfiel mir. Es ist mir entfallen. Noch nie zuvor war mir das passiert. Wie eine Kugel Eis, weil der glückliche Besitzer, eben noch wollte er das erste Schleck-Ritual vollziehen, etwas unachtsam war. Traurig, so fürchterlich traurig, sieht er seine Kugel Pistazien-Eis auf dem Boden liegen. Nicht nur, dass er jetzt die kleine Köstlichkeit entsorgen muss, nein, er muss auch zurück zum Eisverkäufer, um schnellen Ersatz für den jammervollen Verlust zu erstehen...
Es war ein existenziell wichtiges Wort. Jedenfalls für diese meine neue Geschichte. Ergo musste ich das Wort wiederfinden. Merkwürdig nur, dass ich zunächst meinen Blick gen Boden richtete. Doch so ist der Mensch. Wenn das Telefon klingelt, schaut er zu eben jenem Apparat hin. Eine sinnlose Aktion. Klopft es an der Tür, so drehen sich alle Köpfe der Anwesenden. Wohin? Zur Tür? Paradox also, ein solchermaßen entfallenes Wort auf dem Schlossgarten-Boden zu suchen. Doch sah ich nach unten. Der Schock. Vermutlich.
Aber mein Kopf: Wie zugenagelt. Irgendein böser Kobold hatte frischen Zement ins Kleinhirn gegossen. Ich wusste nicht einmal mehr im Ansatz, in welchem, wenngleich auch bis dahin bemerkenswert sortierten, Kontext eben jenes kleine (oder gar große) Wörtchen denn hätte gar so wichtig sein können für den Fortgang respektive für das Ende meiner Geschichte. Dieses Wort hätte das Aha-Erlebnis des Lesers ausgelöst. Dieses Wort hätte die Geschichte zu einem galanten, respektierten Ende gebracht!
Um 3:30 Uhr war ich aufgebrochen, zum französischen Schlossgarten. Frohen Mutes.
Ich mache das immer so. Ich bin im Nordsternpark oder am Berger See zu finden, dichte, sinniere, denke mir Geschichten aus, schaue, staune, begaffe, sehe diesen herrlichen, wunderbaren, immer wieder erstaunlichen Wesen zu, die den Park oder den Garten und den Berger See bevölkern. Wenn ich nur noch das Ende brauche, bin ich sehr gern allein. Demnach suche ich dann den sehr späten Zeitpunkt zum Spazieren, oder aber den extrem frühen. Jetzt gerade brach ein neuer Tag an. Der wunderschöne Schlossgarten erstrahlte in seiner ganzen Pracht. Und jetzt war auch das Schloss zu sehen. Eben noch von der Dunkelheit umhüllt, kam es zögerlich zum Vorschein. So, als riebe es sich, müde noch, die Augen, um den Schlafsand aus den Augenwinkeln wischen zu können. Was würde dieser neue Tag wohl bringen? Neue Gäste, neue Besucher, neue Eindrücke?
Ich hatte das Ende doch fast. Es ist zum Greifen nah gewesen! Wenn ich doch nur wüsste, welches entscheidend wichtige Wort mir entfallen war. Ob dieser Melodie. Nicht einmal verfluchen kann ich diese freundliche, nette kleine Weise, denn, o ja, schon ist auch diese aus allen Bereichen des Kurzzeit-Gedächtnisspeichers völlig, vollständig und vollkommen entwichen. Eine entfallene Melodie, ein entfallenes und immanent wichtiges Wort! Ein entfallener Dichter.
Mit dem neuen Tag zogen auch die Sorgen-Schatten um mich herum auf. Wenn ich dieses Wort nicht wiederfinde, kann ich quasi die komplette Geschichte, die ich nun allerdings im Großen und Ganzen noch rekapitulieren konnte, so weit, so gut, total vergessen. Die komplexe Sicht, von oben, schien noch möglich. Doch aus einer wie auch immer erzwungenen Nähe betrachtet scheint sich das Ende aufzulösen, in ein neblig-feuchtes Nichts. Feiner Dunst liegt über dem Berger See. Er hüllt auch „mein Ende“ ein. Ich kenne es nicht, dieses Ende. Bis zu einem bestimmten Punkt, quasi im hinteren Bereich der Mitte meiner Kurzgeschichte, ist alles klar und deutlich. Die Problematik aber, für jeden Schriftsteller, ist, eine wohl durchdachte Story richtig gut zu beenden. Du magst perfekt sein, was den Aufbau angeht, du magst einen feinen Spürsinn für Mittelteil und einleitenden Schluss besitzen. Aber wenn du das ENDE vergeigst, ist die ganze Geschichte reine Makulatur.
Es waren kluge Gedankengänge. Schachtelsätze, höchst kompliziert. Ein wenig an Kafkas kurze Beschreibung „Auf der Galerie“ erinnernd („Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom Peitschen schwingenden, erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde...“). In Kafkas kurzer Erzählung gibt es nur 2 Sätze, aber unzählige Kommata und Semikola. Eine Meisterleistung der Literatur. Und zudem auch noch wunderschön geschrieben. Ich kenne den Text auswendig.
Eben solche unmäßigen, unerhörten und nahezu ordinären Satzungetüme hatte ich im Kleinhirn aufgebaut, zusammengefügt, sorgsam arrangiert und auch wunderbar jongliert. Ich hatte eine saubere Jonglage, metaphorisch betrachtet, mit fünf Keulen, exakt berechnet und (nahezu) ausgeführt. Da fiel mir diese eine ‘Keule’, quasi eine „tragende“ Keule, zu Boden (allegorisch betrachtet). Kurz zuvor hatte sich, leichter Nebel durchzog mein Kleinhirn zu eben jenem Zeitpunkt, passend zum morning fog, das Ende meiner Kurzgeschichte manifestiert. Ich sah den Schlusssatz vor mir, ein Ungetüm mit etwa einem Dutzend Kommata, doch dann... Die Keule entfiel mir, ich war machtlos, das Ende war verloren. Ziellos stocherte ich im Kleinhirn herum. Aber da war nichts mehr. Nur das Echo meiner zunehmend verzweifelter werdenden Rufe.
Nun genieße ich die erste Morgensonne eines späten Juli im Jahr 2019, bedauernd schüttele ich unwillig den betonierten Schädel. Das Wort, es will mir einfach nicht in den Sinn kommen. Nicht mehr. Es ist weg. Einfach verschwunden. Dabei war es so wichtig. So enorm wichtig. Kann mir jemand helfen, bitte? Senden Sie mir ein Wort. Ein gewaltiges Wort!
Diese Eigenschaften muss es haben: Es soll meisterhaft verarbeitet werden können, auch wunderbar geschmeidig einfügbar - und zudem noch kongenial zu meinem Text passend sein, der aber leider, so nach und nach, aus meinem kurzen Gedächtnis zu verschwinden droht. Ich fürchte, länger als bis zum 20.07. werden die rudimentären Reste dieser enorm guten Geschichte nicht bei mir bleiben. Ich brauche EIN WORT! Wenn irgend möglich, bitte bereits bis morgen. Und es sollte ein GUTES WORT sein. Danke.